Ein 4:4 gegen Schweden also. Das Video dieser spektakulären 93 Minuten von Berlin könnte durchaus als Lehrfilm Karriere machen. Titel: "Warum Deutschland keine Titel gewinnt".
Kapitän Philipp Lahm meint mit hilflosem Entsetzen: "Einem Spitzenteam darf das nicht passieren!"
Und Franz Beckenbauer meint mit lakonischer Augenwischerei: "So was passiert halt mal...".
Wenn nun also beide recht haben, dann bleibt die Frage: wie viel Spitze steckt im deutschen Team?
Natürlich ist es menschlich, wenn ein Fehler passiert. Es ist fahrlässig, wenn zwei aufeinander passieren. Bei drei wird es dann aber schon reichlich dämlich und bei vier Stück ist die Schwelle zur Unfähigkeit überschritten.
Die Unfähigkeit zu selbstbewusster Selbstverständlichkeit: Wenn ein Spitzenteam in der 62. Minute vor eigenem Publikum mit 4:0 führt, dann gewinnt es verdammt noch mal auch.
Die Unfähigkeit zu wütender Gegenwehr: Wenn ein Spitzenteam in drei Minuten vor eigenem Publikum zwei Tore kassiert, dann macht es die Kasse dicht und zahlt zurück.
Die Unfähigkeit zu unersättlicher Zielstrebigkeit: Wenn ein Spitzenteam nach 60 Minuten mit 4:0 führt, dann schaltet es vielleicht einen Gang zurück, aber nicht in den Rückwärtsgang.
Die Unfähigkeit zu individueller Verantwortung: Wenn ein Spitzenteam in kollektiver Eintracht die Hosen voll hat, dann muss eben einer die Drecksarbeit übernehmen und jedem Einzelnen in den Hintern treten, um mal auf die Kacke zu hauen.
Man kann vieles erlernen, trainieren oder einfach kompensieren. Doch für Letzteres gilt das nicht. Charakter hat man, oder hat ihn eben nicht. Erschreckend war deshalb weniger das Ergebnis, als vielmehr der stoische Fatalismus, mit dem das komplette Team den erdrutschartigen Leistungseinbruch gegen geschlagene Schweden einfach geschehen ließ.
Das liegt weniger an einer flachen Hierarchie, als vielmehr an den flachen Stimmen darin. Allein der gesunde Menschenverstand sollte einen schon vor dem Höhepunkt einer demütigenden Blamage lautstark aus den Töppen fahren lassen. Aber so grellbunt das poppige Schuhwerk dieser modernen Spieler-Generation auch sein mag, so blass sind seine Träger.
Harmonie im Bermudadreieck
Niemand erwartet jene tollwütige Zähnefletscherei, mit der einst Oliver Kahn Gegner und Mitspieler den Tod durch sofortigen Verzehr angedroht hatte. Aber man muss noch lautstark kritisieren dürfen. Auch auf dem Platz und in einer flachen Hierarchie erst recht.
Doch in dieser deutschen Elf scheint das Motto zu lauten: "Schimpf du, ich kann das nicht."
Es ist das Ergebnis einer ambivalenten Profi-Generation, die das Kicken weniger auf der Straße, als vielmehr in den Wohlfühloasen professioneller Leistungszentren erlernt hat: unfassbar talentiert, taktisch diszipliniert und technisch hochversiert. Das ist die eine Seite. Stromlinienförmig, Phrasen dreschend und konfliktscheu, das ist die andere.
Das deutsche Team hat Spieler mit dem nötigen Temperament. Thomas Müller gehört zu ihnen, ebenso Sami Khedira. Doch die vorhandene Impulsivität verschwindet im harmoniesüchtigen Bermudadreieck "Lahm — Neuer — Schweinsteiger".
Harmonie ist schön, Kante ist notwendig
Gegen Schweden platzte auf dem Platz niemandem in einer natürlichen Reaktion der Kragen, weil diese Natürlichkeit aberzogen wurde. Statt reinigendem Gewitter auf dem Rasen jetzt also Wundenlecken im Stuhlkreis. Mit Kapitän und Vize. Einer der will, aber nicht kann (Lahm) und einer der kann, aber nicht will (Schweinsteiger).
Schweinsteiger bemängelte zuletzt, dass die Bank beim Torerfolg während der EM nicht geschlossen bis unters Stadiondach gehüpft war. Harmonie und Händchen halten. Zusammen hüpfen und freudig im Kreise drehen? Schön. Aber was ist, wenn es mal nix zu feiern gibt, wenn der Gegner die Tore schießt?
Wer von Auswechselspielern Empathie einfordert, sollte sie als Führungsspieler auch auf dem Platz vorleben können. Mit Leidenschaft und Lautstärke, mit charakterstarker Präsenz und dem Mut zu unbequemer Verantwortung.
Auf dem Weg zum ersehnten Titel führt der Kuschelkurs wohl einfach nicht ans Ziel. Das sollte man bedenken. Denn sonst stellt man am Ende fest, dass das Stigma des Ewigen Talents auch einer ganzen Generation anhaften kann.
Grüße
Michael