Der Waffenkult der Rauschgiftszene hat in London groteske Formen angenommen. Jugendliche in Lambeth und Southwark brüsten sich damit, sie könnten „in Stunden“ Schnellfeuergewehre oder eine Magnum besorgen. Pistolen würden auf dem Londoner Schwarzmarkt für umgerechnet 1500 Euro und Schnellfeuerwaffen für 1200 bis 6000 Euro verkauft, berichtet der „Evening Standard“.
Die Waffen würden für 350 Euro die Nacht an Kriminelle vermietet, wenn es gilt, Konkurrenten einzuschüchtern oder gar auszurauben. Allein im vergangenen Jahr beschlagnahmte die Sondereinheit Trident mehr als 900 Schusswaffen im schwarzen Rauschgiftmilieu. Bei einer bis Juni vergangenen Jahres geltenden Amnestie für Stichwaffen kassierte die Polizei Tausende Messer - aber die Kriminalität ist nicht einzudämmen.
Autodiebstahl, Raub oder Sexualverbrechen
Die schwarzen „Crews“ sind nicht die einzigen Banden, die Gewalt in die Metropole tragen. Scotland Yard schätzt, dass es in London gut 200 Banden gibt, unter ihnen auch solche aus der Gemeinschaft der pakistanischen Zuwanderer (Heroinschmuggel), türkische Gangs (Rauschgift), im Norden Londons albanische Banden (Prostitution) und im Zentrum chinesische Gruppen (Prostitution und illegales Glücksspiel). Hinzu kommen englische Banden, meist weiße Männer und Jugendliche, die sich auf Einbrüche und Überfälle spezialisieren.
Die britische Regierung behauptet, die Kriminalitätsrate im Lande sinke. Dass dem nicht so ist, zeigte jüngst ein Bericht der Vereinten Nationen, der auf einer Gallup-Umfrage in 21 Industrienationen basierte. Danach ist es in Großbritannien und vor allem in London gefährlicher als in allen anderen Industrieländern und ihren Großstädten. London ist, gemessen an der Zahl der Überfälle und Einbrüche, gar gefährlicher als New York und Istanbul. 32 Prozent der Londoner sind schon einmal Opfer von Kriminalität geworden, von Wohnungseinbruch, Autodiebstahl, Überfall, Raub oder Sexualverbrechen.
In New York liegt die vergleichbare Zahl bei 23 Prozent der Bevölkerung, in Istanbul bei 18 Prozent. Dass einem Bewohner Fulhams von Rauschgifthändlern der Wagen gestohlen wird, während der Fahrer nur zehn Meter entfernt ist, dass Einbrecher in die Wohnung eindringen, während der Mieter im Wohnzimmer telefoniert, dass Frauen, mit ihren Kindern auf dem Schulweg, von Jugendlichen zur Herausgabe von Handtasche und Mobiltelefon gezwungen werden - das alles kommt vor. Wer sich in einem solchen Fall bei der Polizei meldet, wird zunächst darüber belehrt, dass dies kein Überfall im Sinne von „robbery“ gewesen sei. Dafür müsse das Opfer verletzt sein. Andernfalls handele es sich nur um „Belästigung“. So schönt die britische Regierung ihre Kriminalstatistik.
Polizisten sind überfordert
Die Londoner Kriminalität kann man aber nicht nur den schwarzen Rauschgiftbanden in die Schuhe schieben. Das ließe außer Acht, wie vernachlässigt und verwahrlost viele Jugendliche in Großbritannien aufwachsen - ob sie schwarzer oder weißer Hautfarbe sind. Nach einer Studie zur Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen von Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, liegt Großbritannien auf dem letzten Platz aller 21 Industrienationen - ein erschütterndes Ergebnis für die Regierung, die den Kampf gegen Kinderarmut zu einem ihrer Hauptthemen erkoren hatte.
Bewohner Londons erleben immer öfter marodierende Gruppen Jugendlicher in ihren Wohngebieten, die Passanten bedrohen, Autos aufbrechen, mit Rauschgift handeln und aggressiv werden, sobald sie jemand zur Rechenschaft ziehen will. Zu ihnen gehören auch die „Wheelers“, die auf Fahrrädern demonstrativ riskant in den laufenden Verkehr fahren, Autofahrer zum Bremsen zwingen, den Wagen bespucken oder gar zuschlagen, wenn der Fahrer erschrocken aussteigt.
Wer sich über den alltäglichen Terror bei der Polizei beschweren will, kapituliert bald: Die Notrufzentrale reagiert nur auf lebensbedrohliche Schwerkriminalität, bei der lokalen Polizeistation wird man abgewimmelt. Die Polizisten sind überfordert. Die randalierenden Jugendlichen und die kriminellen Banden nützen das aus.