So nach langer Zeit mal ein für mich wichtiges Update.
Ich habe den primären Text von der ersten Seite überarbeitet.
Mehr Infos und die derzeitige Entwicklung. Kurzum, es ist schlimmer geworden.
Das Leben mit Agoraphobie - Version 2.0
Hiermit möchte ich in einer überarbeiteten Version meine Agoraphobie anderen Menschen näher bringen. Zum einen was das ist und wie mich das in meinem Leben einschränkt, zum anderen um eventuell Menschen zu finden die das auch haben um sich mal austauschen zu können. Ich beschreibe hier wie sich die Phobie bei mir auswirkt und was ich bislang dagegen gelernt hab. Vielleicht hilft es ja dem ein oder anderen der das auch hat das es ihm etwas besser geht. Bei Jedem der das hat kann sie auch anders ausgeprägt sein. Achtung sehr viel Text!
Was ist Agoraphobie:
Agoraphobie ist eine Angststörung die viele verschiedene Ursachen haben kann.
Mögliche Symptome und eine grobe Übersicht ist auf
https://de.wikipedia.org/wiki/Agoraphobie zu finden.
Die Klassifikation nach ICD - 10 lautet F40.01 Agoraphobie mit Panikstörung in meinem Fall. Ohne Panikstörung wäre 40.0.
Welche Situationen sind in deinem Fall triggernde Ursachen?
„In meinem Fall gibt es folgende triggernde Situationen“:
- Großstädte / Mehrspurige Straßen bzw. Kreisverkehre in Städten
- Große Menschenmassen
- Weite Entfernungen von Zuhause / Außerhalb der Sicherheitszone 3
- Verlust oder Ausfall der Ankerpunkte (später mehr dazu)
- Menschen auf die man sich nicht verlassen kann
- Ständig wechselnde Situationen / Einsatzorte
- Kontrollverlustangst
- Wenn man mich zu etwas zwingen will was ich nicht will
„Was genau passiert denn bei dir wenn eine triggernde Situation eintritt?“
- Mein Stresslevel erhöht sich von 0 -10 wobei 10 blanke Panik ist in der ich nicht mehr klar denken kann
- Ich fang an zu zittern von leicht bis stark je nach Stresslevel
- Ich habe Kontrollverlustsangst das ich aus der gegebenen Situation nicht oder nicht rechtzeitig fliehen kann wenn ich das will
„Was war die Ursache der Agoraphobie in deinem Fall?“
Eins Vorweg, wenn ihr merkt etwas stimmt nicht macht eine Therapie! Ohne Therapie wäre meine jetzige Situation vermutlich um einiges Schlimmer als wie sie derzeit ist. Auch hätte ich ohne Therapie nie rausgefunden was mit mir nicht stimmt und hätte nicht das richtige dagegen untenehmen können.
Die Ursache meiner Phobie liegt in meinem ersten Schuljahr der Grundschule. Ich wurde in der Klasse viel gemobbt und leider auch geschlagen. Ich hatte kaum Freunde und keiner stand mir bei. In den Pausen war ich, zumindest in der Nähe der Pausaufsicht, einigermaßen sicher. Leider hatte mich auch die Lehrerin permanent auf den Kicker, was alles noch schlimmer gemacht hat. Es ging soweit, dass man mir auf dem nach Hauseweg aufgelauert hat.
Ich hatte regelrechte Angst nach Hause zu gehen. Ich hatte einen nach Hauseweg von ca. 7 Minuten. Da ich keine Lust auf Prügel hatte fing ich an Umwege zu laufen bis zu einer halben Stunde. Aber irgendwann hatten Sie alle Wege die ich gehen konnte im Blick bis auf einen.
Danach fing ich an über den nahe gelegenen Friedhof zu gehen. Den Friedhofswärter kannte ich un der hatte damit kein Problem. Meine Feinde trauten sich nicht über den Friedhof, sie hatten Angst davor und vor dem Wärter. Leider haben Sie dann irgendwann am Ausgang des Friedhofs gewartet. Das führte dazu dass ich entweder gewartet hab bis sie keine Lust mehr hatten was auch mal mehrere Stunden dauern konnte.
Natürlich haben sich meine Eltern dann mit mir unterhalten warum ich so spät zuhause bin.
Ich hab alles erzählt mit der bitte nichts zu tun da es halt ein ungeschriebenes Gesetz auf der Schule gab: wer petzt wird verdroschen! Meine Eltern haben dann aber natürlich trotzdem mit der Schule gesprochen und es wurde noch schlimmer. (Ich mach Ihnen keinen Vorwurf, sie wollten ja nur helfen). Ich wurde dann irgendwann immer von der Schule abgeholt was die Sache ein wenig linderte. Meine Noten waren natürlich eine Katastrophe. Das führte dazu dass ich (auch auf eigenen Wunsch) die erste Klasse wiederholt habe.
Neue Klasse, neue Lehrerin und neue Freunde! Ab da ging es erstmal bergauf.
Aber das erste Jahr hatte sich sehr eingebrannt. Das war das erste Puzzleteil was später zur Phobie geführt hat. Es wurde mit der Zeit nur verdrängt vom Gehirn.
In den folgenden Klassen der Grund- und Realschule gab es nur noch vereinzelnde Probleme.
Dann ging es auf die Berufsschule. Da diese relativ weit entfernt von meiner Stadt war musste ich damals mit Bus und teilweise Bahn dahin fahren. Hier begann das 2. Puzzleteil. Wenn der Bus zu spät kam hab ich den Anschlussbus (oder Bahn) verpasst, was dann immer in Stress ausgeartet ist noch rechtzeitig zur Berufsschule zu kommen. Da diese auf einen Berg gebaut war, war der Weg nach oben alles andere als leicht vor allem mit Asthma.
Dieser Stress, wenn du etwas verpasst und versuchst es noch rechtzeitig zu schaffen, hat sich eingebrannt.
Das ist einer der Gründe warum ich Unpünktlichkeit hasse wie die Pest und das ich nicht mehr mit Bus und Bahn fahren kann. (Kontrollverlustangst).
Glücklicherweise hab ich dann den Führerschein gemacht und habe mir mit meinem Bruder mein erstes Auto geteilt (VW Polo 2C).
Dadurch war zumindest die Kontrollverlustangst vorerst weg.
Ich hab so 2 Lehren in der Berufsschule gehabt. Einmal Gas-Wasser-Scheiße und einmal Elektriker.
„Hast du in den Lehren dann nicht auch ständig wechselnde Situationen / Orte gehabt?“
Ja durchaus, aber da immer ein Geselle dabei war der gefahren ist und mir gesagt hat was zu tun ist wurde die Phobie nicht oder nur unmerklich getriggert.
Der Geselle oder Chef war quasi ein Ankerpunkt.
Man muss aber dazu sagen auch in der 1. Lehre hatte ich Probleme.
Ich wollte alles richtig machen und hab dadurch vieles falsch gemacht.
Das führte dazu, dass mich kaum ein Geselle mehr mitnehmen wollte.
Ein Geselle musste mich dann aber mitnehmen. Er hatte auch den Ruf mit den schweren Fällen klar zu kommen. Wir hatten einen schweren Start. Aber an einem Tag hatten wir ein längeres klärendes Gespräch wo er mir sagte was ich alles falsch mache und was ich besser machen kann. Das hat mir sehr viel geholfen und bin ihm bis heute sehr dafür dankbar.
„Wie ging es dann weiter?“
Nach der ersten Lehre wollte ich eigentlich (Werner sei dank) Klempner bleiben. Da mein Ausbildungsbetrieb mich aber nicht übernehmen konnte (zu groß) hab ich die 2. Lehre als Elektriker gemacht. Auch hier konnte ich leider nicht übernommen werden.
Ich kam einige Monate bei einer guten Firma als Haustechniker unter, wo wir alles Mögliche am Haus gemacht haben. Mal Isolierung montiert, oder Heizungen oder Wartungen durchgeführt usw.
Der Chef war echt super. Ich merkte aber dann das ich langsam damit Probleme bekam durch die wechselnden Einsatzorte und täglich neuen Kunden.
Ich war auch viel allein mit Firmenwagen unterwegs.
Bei einem Kunden mit Villa gab es dann einen kleinen Meltdown.
Wir hatten bereits tagelang die Heizung leer laufen lassen da hier Heizkörper und die Heizung modernisiert werden sollten.
Trotzdem war noch irgendwo jede Menge schwarzes Heizungswasser im System.
Als ich die Leitung dann trennen wollte hab ich versehentlich den Keller geflutet. Davor schon Probleme gehabt, da ich teilweise ein Leitungsstück 3 Mal gemessen hab und dann trotzdem was falsch abgesägt hab.
Nach dem Vorfall hatte ich ein längeres Gespräch mit dem Chef da der das ja auch gemerkt hatte.
Da ich seinen guten Ruf nicht schädigen wollte haben wir uns im Guten getrennt.
Dann musste ich leider Zeitarbeit machen da ich von dem Jobcenter dazu gezwungen worden bin.
Aber hier ging dann alles langsam richtig den Bach runter.
Bei den ersten beiden Zeitfirmen war ich nur ein paar Wochen.
Sehr viele Eintagesjobs an vielen verschiedenen Orten wo man sich wie ein Sklave gefühlt hat.
Kein Firmenfahrzeug, kein Zuschuss nichts.
Bei der 3. Zeitarbeitsfirma (2010) kam ich nicht sehr weit.
Hier bahnte sich der große Knall bereits morgens an.
Ich sollte bei einer großen Rohbaustelle anfangen als Industrieelektriker (Hab nur Hauselektrik gelernt).
Ich sollte Kabel ziehen, Kabeltrassen montieren, Stromunterverteiler bauen usw.
Schon wo ich morgens aufgestanden bin ging es mir sehr schlecht.
Bin dann zur Baustelle (Wuppertal Elberfeld, Rohbau Saturn)
Es fing morgens um 06:00 Uhr an nachdem ich einen Parkplatz suchte.
Ich fragte die Müllabfuhr die grad vor Ort war, wo man denn kostenfrei parken könnte.
Diese lachte mich aus und meinte dass um diese Uhrzeit so gut wie keine kostenfreie Parkmöglichkeit mehr gäbe. Ich habe den letzten freien Platz auf einem Berg bekommen 900m von der Baustelle entfernt außer Sichtweite. Somit war das einzige was mir vertraut war nicht in meiner Nähe. In der großen Stadt fühlte ich mich generell schon fremd und allein gelassen. Ich machte mich dann auf zur Baustelle mit ca. 15 kg am Arm (Werkzeugkiste), Rucksack und Arbeitskleidung. Arbeitsbeginn wäre am um 07:30 Uhr gewesen. Um 07:30 Uhr wollte ich auf die Baustelle aber man ließ mich nicht. Keiner sprach deutsch, meine Kontaktperson die mich in Empfang nehmen sollte war nicht vor Ort und die Nummer die man mir von der Person gab war nicht vergeben. In diesem Moment war es als ob eine Sicherung in meinem Kopf ausgelöst hätte. Ich bekam blanke Panik... Es war so als würden die Betonsäulen des Rohbaus bersten und das gesamte Gebäude auf mich einstürzen.
Ich wollte nur noch da weg.
Ich nahm mein Werkzeug und rannte zu meinem Auto zurück.
Vermutlich über rote Ampeln da ich mich an Hupen erinnere aber an den Rest nicht mehr. Ich erinnere mich erst wieder dass ich ca. 5 Meter hinter meinem Auto zusammen gebrochen bin da aufgrund meines Asthmas.
Ich hatte zum Glück mein Spray dabei.
Nachdem ich einigermaßen wieder Luft bekam warf ich alles Werkzeug ins Auto und aktivierte die Zentralverriegelung.
Danach bekam ich einen Heulkrampf.
Es war so als säße ich auf dem Beifahrersitz und gucke zu mir rüber und fragte mich was zum Teufel stimmt mit dir nicht.
Ich wollte nur noch Weg von da und raste deswegen Richtung Heimat.
Zu dem Zeitpunkt wohnte ich bei meinen Eltern im Haus noch zur Miete (Ohne Job keine Bude halt)
Zuhause angekommen kamen meine Eltern raus (7. Sinn von Müttern, es wusste keiner dass ich schon nach Hause komme).
Meine Mutter an der Beifahrerseite und mein Vater an der Fahrerseite.
Ich hatte zum Glück während der Fahrt nachdem ich wieder in bekannten Gefilden war die Zentralverriegelung deaktiviert.
Meine Mutter machte das Auto aus und zog die Handbremse während mein Vater mir mit Gewalt jeden Finger vom Lenkrad ziehen musste, da ich völlig verkrampft dieses festhielt.
Ich erzählte meinen Eltern was passiert war.
Dann fasste ich den Entschluss eine Therapie zu machen um raus zu finden was mit mir nicht stimmt. Glücklicherweise bekam ich relativ schnell einen Platz.
Nach der 2. Sitzung sagte mein Therapeut mir er könnte mir schon die Diagnose sagen da die Zeichen eindeutig sein. Halt F40.01 Agoraphobie Typ 2 mit Panikstörung.
Heilungschancen bei Typ 1 ca. 70% bei Typ 2 30%.
In meinem Fall leider nicht heilbar.
Auch hat der Therapeut gesagt es kann besser aber auch schlimmer mit der Zeit werden.
Mit den Jahren ist es schlimmer geworden da ich z.B. meine wahren freunde die alle woanders wohnen nicht mehr besuchen kann. Bleibe aber über soziale Medien, Spielen usw. in Verbindung. Auch kommen sie mich immer mal wieder besuchen wo ich gar nicht ausdrücken kann wie viel mir das bedeutet und das sie mich dafür nicht verurteilen.
„Was hast du in der Therapie gelernt?“
In der Therapie habe ich zusammen mit dem Therapeuten so genannte Ankerpunkte erstellt.
Ankerpunkte dienen dazu triggernde Situationen zu vermeiden oder zumindest zu lindern.
Für jeden betroffenen können die gleichen oder unterschiedliche Ankerpunkte hilfreich sein.
Auch habe ich im Zuge der Therapie auf anraten des Therapeuten eine freiwillige Angstkonfrontationstherapie gemacht.
Diese erfolgte folgendermaßen:
Im ersten Schritt musste ich mir die Situation in Wuppertal noch einmal vorstellen dort hin zu gehen mit allen Schritten und dabei aufschreiben was ich fühle mit dem was ich bislang in der Therapie gelernt habe. Welche Gefahren real sind welche nicht usw. - Soweit kein Problem -
Im zweiten Schritt musste ich noch mal nach Wuppertal mit meinen damaligen besten Freunden und alle Schritte durchgehen und auch wieder alles aufschreiben. - Das war schon knackig -
Im 3. Schritt musste ich ein letztes Mal dorthin allerdings alleine.
Das war hart. Aber ich war froh es getan zu haben.
Dann wollte ich nach Hause und hatte ein Gespräch mit meinem Auto:
Auto: Hey jetzt wo Schritt 3 fertig ist können wir doch direkt noch Schritt 4 mitmachen was hältst du davon?
Ich: Es gibt keinen Schritt 4?!!
Auto:
*Pitch* Jetzt schon
(Kupplungsseil gerissen mitten auf einer Hauptkreuzung)
Ich: ALTER DEIN F****ING ERNST???????
Auto: ¯\_(ツ)_/¯
Da hatte ich dann fast direkt wieder eine Panikattacke (Stresslevel 9/10)
Ich hatte glücklicherweise noch den 1. Gang drin und konnte so von der Kreuzung runter fahren und mich erstmal beruhigen.
Da das Auto über den ADAC abgesichert war habe ich diesen dann angerufen.
Da gab es dann einige Kommunikationsprobleme aber schließlich sagte mir Jemand es kommt in ca. eine Stunde Jemand vorbei.
15 Minuten später kam der gelbe Engel. Stresslevel von 9 auf 5 gesunken.
Nach einem kurzen Gespräch was passiert ist zog er mich erstmal auf einen Parkplatz und meinte dann er könnte ein provisorisches Kupplungsseil bauen das ich nach Hause kann.
Seit dem liebe ich die gelben Engel. Stresslevel auf 3 gesunken, ab nach Hause bzw. Werkstatt neues Seil bestellen.
Auch habe ich in der Therapie gelernt nein zu sagen. Auch wenn es banal klingt das war nicht einfach. Ich bin an sich ein sehr hilfsbereiter sozialer Mensch aber das wurde auch oft ausgenutzt. Das Nein sagen zu lernen hat vieles verbessert weil ich jetzt nicht mehr drüber nachdenke was denkt der Mensch über mich wenn ich Nein sage? Das ist mir mittlerweile egal. Richtige Freunde akzeptieren auch ein Nein. Ich hab viele falsche Freunde aussortiert.
„Welche Ankerpunkte hast du in der Therapie erstellt?“
Erster Ankerpunkt: Mein Auto - Es ist meine mobile Heimat, etwas vertrautes was mich beschützt und jederzeit von einem (fremden) Ort wieder nach Hause bringt bzw. in die vertraute Umgebung meiner Heimat bringt. Vertraute Umgebung erstreckt sich in meinem Fall über alle Städte und Wege die ich ohne Navi fahren kann. Der erste Punkt ist somit auch der wichtigste Punkt aller Punkte. Daher habe ich auch eine andere Beziehung zu meinem Auto, es ist wie ein Familienmitglied daher behalte ich es bis das der Mechaniker uns scheidet.
Das verstehen viele leider nicht warum ich soviel Geld in den Erhalt des Autos investiere dies ist der Grund dafür. Ein neues Auto wäre wieder eine neue Situation die ich so lang wie möglich versuche zu vermeiden. Es ist für mich auch unheimlich wichtig das mein Auto, wenn ich an einem fremden Ort bin, immer in meiner Nähe steht zum Beispiel vor oder hinter dem Gebäude in dem ich mich gerade befinde. Solange ich mein Auto durch z.B. ein Fenster oder so sehen kann, fühle ich mich bedingt wohl. Ist eine Art Erdung.
Zweiter Ankerpunkt: Mein Navi - Es leitet mich immer sicher in meine bekannte Umgebung. Deswegen fahre ich auch immer mit 2 Navis, eins bleibt als Reserve immer mit dabei falls das erste ausfallen sollte. Über Handy kann ich bedingt ein 3. Navi realisieren.
Dritter Ankerpunkt: Der ADAC - Ich habe eine Plus Mitgliedschaft damit ich auch den so genannten Pick Up Service in Anspruch nehmen kann. Das heißt wenn das Auto vor Ort nicht mehr instand zu setzen ist bei einer Panne wird das Auto samt Fahrer zu seinem Wunsch Ort gebracht. Dies ist auch bereits einmal der Fall gewesen und es gibt mir Sicherheit falls der erste Ankerpunkt ausfallen sollte.
Vierter Ankerpunkt: Mein Mechaniker. Er sagte mir mal vor längerer Zeit wenn du irgendwo am Ar*** der Welt bist, Auto geht nicht, ADAC kommt nicht ruf mich an ich hol dich und dein Auto ab.
Eine Aussage die mir unendliche Sicherheit gibt. Kann man mit nichts auf der Welt bezahlen so etwas. Bester Mann
Fünfter Ankerpunkt: Meine Wohnung - Mein Schloss, mein Bunker mein Hauptstützpunkt.
Hier gelten alleine meine Regeln und hier fühle ich mich am wohlsten. In der schlimmsten Form der Agoraphobie (die ich zum Glück nicht habe) kann man seine Wohnung nicht mehr verlassen. Die einzige Person die ich noch kenne kann wohl maximal bis zu ihren Stadtgrenzen fahren. Wenn ich Urlaub hab fahr ich nicht weg. Ich deck mich mit Lebensmittel ein und genieß meine Wohnung und Balkonien.
Sechster Ankerpunkt: Meine wahren Freunde - Die meine Phobie verstehen und mich dahingehend unterstützen. Wenn ich mit Freunden wegfahre, und nicht selbst mit meinem Auto fahre, sondern mitgenommen werde, erfordert dies das maximalste Vertrauen was ich in Freunden haben kann. Dies haben nur sehr wenige. Dies setzt voraus, das wenn ich Panik bekomme oder mir unwohl wird, das man mich wieder zu meinem Auto bringt ohne das ich darum flehen muss oder mir dies verweigert wird. Fahre ich selbst mein Auto mit Freunden zusammen und Jemand spielt Navi so muss dies auch so erfolgen das ich immer im voraus Bescheid bekomme wo ich lang muss. ZB. Jetzt könnte ich schon die Spur wechseln auch wenn es erst weit hinten nötig wäre.
Auch kann man sagen dass ich in Zonen lebe:
Zone 0 - Unimatrix Zero:
Meine Wohnung
Zone 1
Das Haus in dem ich wohne inklusive 50 Meter Umkreis außerhalb
Zone 2
Meine komplette Heimatstadt
Zone 3
Alle Orte die ich kenne die ich ohne Navi(s) anfahren kann
Zone 4
Alle Orte wo ich keinen Meter fahre ohne Navi(s) und nur hinfahre wenn es nicht unbedingt nötig ist
Zone 5
Außerhalb Deutschland - Not gonna happen
„Was ist wenn du irgendwo hin musst in Zone 4 wie bewerkstelligst du dies?“
Das erste was ich mache wenn ich irgendwo fremd hin muss (als Beispiel eine Fortbildung zu meinem Job) baue ich mir mein Sicherheitsnetz auf:
1. Die genaue Adresse herausfinden mit Postleitzahl, Adresszusatz etc.
2. Die Adresse auf einer Routenseite bzw. ins Navi eingeben um die Entfernung und die ungefähre Reisedauer zu ermitteln da ich immer ca. 1 Stunde Probleme mit einkalkuliere.
3. Auf der Routenseite ein Satellitenbild anfordern um ein Bild von der Umgebung zu bekommen
4. Ggf. weitere Bilder durch Kontaktpersonen oder Internetseiten wenn verfügbar holen.
5. Vorbereitungen für die Fahrt treffen damit an dem Tag alles bereit ist (Tank voll,
Reservetank voll, Navi(s) an Bord, Genug Geld dabei für alle Fälle, Fahrzeugcheck etc.
Dann versuche ich dort anzurufen oder eine Mail zu schreiben um meine Situation zu erläutern. Bestes Beispiel zuletzt musste ich nach Hagen.
Fortbildung für die Wartung von Rauch- und Wärmeabzugsanlagen (RWA).
Ich hab eine nette Dame per Mail erreicht die ich die Situation erläutert habe.
Sie war so nett und hat mir einen Dozentenparkplatz direkt vor dem Gebäude reserviert (selbst wenn das Geld kosten würde hätte ich es bezahlt).
Ich konnte während der Pause im Trainingsraum bleiben und konnte wenn ich mir ein Getränk im Eingangsbereich geholt hab durch große Scheiben den Parkplatz mit meinem Auto sehen.
Die Dame war auch gleichzeitig meine Ansprechperson.
Das Training war zum Glück nur ein Tag. Trotz Stresslevel 4-5 war dies ein guter Tag bezüglich der Phobie.
„Gibt es sonst noch Auswirkungen durch die Phobie?“
Ja einige soziale Dinge gibt es:
- Wenn ich bei Jemanden zu Gast bist oder zusammen im Restaurant etc. setze ich mich meistens unbewusst immer an einem Rand des Tisches bzw. in der Nähe zum schnellsten Fluchtweg
- Ab und an kommt es vor das ich den Zwang hab nach meinem Auto zu sehen ob es noch da steht und alles gut ist. Sowohl an einem fremden Ort als auch Zuhause.
- Wenn ich bei Freunden bin kommt leider relativ schnell aufgrund der Phobie ein sehr starkes Heimweh auf. Je höher die Distanz zur Heimat desto eher kommt dies.
- Auf Partys fühle ich mich nur eine Weile wohl. Irgendwann fühle ich mich irgendwie als 5. Rad am Wagen. Das verstärkt sich wenn ich keinen da hab (den ich kenne) mit dem ich über Themen reden kann die mich auch interessieren bzw. mitreden kann.
- Ich bin gerne allein (aber nicht einsam) das liegt daran das sich mein sozialer Akku entlädt wenn Menschen bei mir sind. Je mehr Menschen desto schneller ist der Akku leer. Ist aber auch Situationsabhängig. Solange ich mich wohl fühl alles gut sobald das nicht mehr ist gehe ich. Das hab ich früher so nicht gemacht und es hat alles schlimmer gemacht.
- Ich lass mich nicht mehr zu Essen bei jemand zuhause einladen. Es gibt halt vieles was ich nicht mag und ich möchte nicht dass Jemand extra wegen mir sich mega Aufwand macht. Dann schmeckt es mir vielleicht trotzdem nicht und ich möchte nicht unhöflich sein. Dann lieber was liefern lassen oder ins Restaurant und Berücksichtigung des Sicherheitsnetzes
- Ich lauf auch privat gern in Arbeitsklamotten rum außer dass Oberteil. Zum einen ist es sehr bequem zum anderen gibt es mir ein wenig Sicherheit: Arbeitschuhe Grip / rutschfest / Durchtrittsicher / Stahlkappe und Hose Knieschutz durch die Polster.
Ist mir auch egal was andere davon denken. Aber das sind halt die Gründe dafür.
„Als was arbeitest du dann jetzt und wie wirkt sich die Phobie auf der Arbeit aus?“
Nach der Therapie hatte ich das Glück durch meinen Vater auf eine freiwerdende Stelle als Haustechniker in einer Ausbildungsakademie zu landen.
Direkt in meiner Nachbarstadt wo ich teilweise mit aufgewachsen bin durch meine Großeltern väterlicherseits die dort wohnten. Dies ist seit 01.08.20211 der Fall.
Da dies ein NICHT ständig wechselnder Einsatzort ist kann ich hier meine gesamte Energie konzentrieren.
Da ich aufgrund der Phobie sowie einer alten Knie OP eine Bestätigung zur Schwerbehinderung habe und dies meiner Firma vorliegt darf ich auch nicht in anderen Liegenschaften eingesetzt werden. Ich möchte bis zu meiner Rente 2050 gerne noch da bleiben.
Derzeit sieht es auch ganz gut aus das dies klappt.
Die meisten Menschen dort kenne ich mittlerweile per Du.
Die Gäste die kommen sind aushaltbar, da ich nicht viel Kontakt mit ihnen hab.
Beispiel großer Konferenzsaal, 80 Gäste, technisches Problem mit Laptop Beamer etc.
Hier kenne ich den Trainer im Normalfall und kann mich auf das Problem konzentrieren.
Da der Ort auch in Zone 3 liegt und der Parkplatz gesichert ist hab ich maximal ein Stresslevel von 1.
Des Weiteren könnte ich im Notfall zu Fuß nach Hause gehen auch wenn es 12km sind.
Bei Bedarf wird dieser Text noch mal angepasst.